Gravour auf der Gedenkstätte BezdonysNeben Juden bildeten die sowjetischen Kriegsgefangenen die größte Opfergruppe der deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg. Von etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind ca. 3,3 Millionen – in litauischen Lagern ca. 170.00 – Kriegsgefangene umgekommen, infolge von geplantem Verhungern (Hungerplan), durch erschöpfende Zwangsarbeit, durch Seuchen, gesundheitliche Unterversorgung und durch gezielte Morde. Hungersterben, tödliche Massentransporte, Elendsmärsche und gezielte Massenmorde waren das Resultat grundsätzlicher Befehle der militärischen Führung. Auch in Litauen bestimmte die Wehrmacht die Behandlung und den Einsatz der Kriegsgefangenen, sie war für deren unmenschliche Lebensbedingungen, nicht zuletzt deren Auslieferung der als „untragbar“ eingestuften Gefangenen an die SS verantwortlich (Wehrmacht; Kommissarbefehl).

In dieser völkerrechtswidrigen Weise wurde in den Durchgangs- und Stammlagern in und um Vilnius, Kaunas und Šiauliai, in den großen Lagern von Naujoji Vilnia, Bezdonys, Virbalis,  Kalvarija, Alytus und den drei Lagern im Memelgebiet / Klaipeda verfahren. Zwei Monate nach dem deutschen Einmarsch waren die „Lebensverhältnisse … in den Lagern in Litauen bereits im September 1941 so katastrophal, dass ein Massensterben einsetzte“ (Dieckmann 2011, S. 1378). Die Gefangenen wurden von Beginn an als Zwangsarbeiter eingesetzt: in der Landwirtschaft, bei der Aushebung von Massengräbern für ermordete Juden, in Arbeitskompanien zu Schanz- und Bauarbeiten. Wirksamer Einsatz scheiterte jedoch schon im Winter 1941/42 an den in den Lagern ausgebrochenen Epidemien und dem massenhaften Hungertod. Der in Litauen für Kriegsgefangene zuständige Oberfeldkommandant Emil Just, der nach dem Krieg von einem sowjetischen Gericht in Riga zum Tode verurteilt und 1947 in Kaunas hingerichtete worden ist, sagte vor Gericht zur Vernichtung der Kriegsgefangenen aus: „Man benutzte dafür die Methoden des physischen Erschöpfens und Massenerschießungen“ (Dieckmann 2011, S. 1334).

Die erbärmliche Unterbringung beschleunigte das Massensterben derart, dass deutsche Einsatzstellen den „Erhalt“ der Arbeitskraft der arbeitsfähigen Kräfte durch verbesserte Versorgung forderten. Vor dem Hintergrund des drückenden Arbeitskräftemangels setzte 1942 in Teilen der Wehrmacht ein „gewisses Umdenken“ (Streit 1997) ein, das auch als Reaktion auf den sich verstärkenden Widerstand der Roten Armee zu interpretieren ist, in der das Schicksal der Kameraden bekannt wurde. Die Wehrmachtsführung bestand jedoch gegenüber vereinzelten Versuchen humaner Behandlung der Gefangenen weiterhin auf der Härte – die „Wehrmacht als Institution“ unterdrückte solche Bemühungen „mit aller Konsequenz“ (Streit 1997).

Bezdonys Gedenkstätte I für Sowjetische KriegsgefangeneIm Verlauf des Jahres 1942 wurden die arbeitsfähigen Gefangenen verstärkt in der litauischen Landwirtschaft und der Holz- und Torfgewinnung eingesetzt, im gleichen Jahr begannen auch die Deportationen zur Zwangsarbeit im Reichsgebiet, vor allem im Bergbau und der Schwerindustrie (Foto: eindrucksvolle Gedenkstätte für sowjetische Kriegsgefangene in Bezdonys). 1943 brutalisierte sich der Einsatz Gefangener noch, als in Abstimmung zwischen Wehrmacht und SS Zwangsarbeiter dadurch beschafft wurden, dass aus Gebieten mit starker Partisanentätigkeit arbeitsfähige Männer und Frauen als „im Bandenkampf Gefangene“ rekrutiert und deportiert wurden. In Litauen erlitten Männer, die sich der Musterung für Arbeitsdienste entzogen, vielfach das gleiche Schicksal (Zwangsarbeit).

Die überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen wurden nach Kriegsende ein zweites Mal zum Opfer. Schon während des Krieges hatte sie Stalin zu Deserteuren erklärt, weil sie „nicht weiter“ gekämpft hätten. Nach der Rückkehr 1945 in die Heimat wurden sie mit ebenfalls zurückkehrenden zivilen Zwangsarbeitern in neue, nun sowjetische Lager gesperrt und erst im Zuge der Entstalinisierung zunächst freigelassen, aber erst 1995 rehabilitiert.

Im Mai 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, hat sich der deutsche Bundestag dazu durchgerungen, den heute noch lebenden Opfern des Kriegsverbrechens an den ehemaligen sowjetischen Gefangenen – man ging 2015 noch von ungefähr 4.000 Berechtigten aus –
eine symbolische Entschädigung in Höhe von jeweils 2.500 Euro zu gewähren. Jahrzehntelang waren sie als Opfer des Naziregimes von Deutschland ignoriert worden.


Literatur / Medien
Dieckmann (2011), Band 2, S. 1328–1380 (Zitate S. 1334, S. 1378); Ders.: Alytus 1941-1944: Massenmorde in einer Kleinstadt. Ein Fallbeispiel deutscher Besatzungspolitik in Litauen. Die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen in Alytus (http://lfpr.lt/wp-content/uploads/2015/07/LFPR-8-Dieckmann.pdf, S. 14); „Ich werde es nie vergessen“: Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004–2006, hrsg. von Peter Jahn / Kontake e.V., Berlin 2007; Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2013, S. 188–198; Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn 1997 (Neuausgabe des Standartwerks von 1978), Zusammenfassung unter http://www.keine_kameraden.php); Deutschland entschädigt sowjetische Kriegsgefangene, ZEIT Online v, 20. Mai 2015 (unter
http://www.zeit.de/entschaedigungen-kriegsgefangene-sowjetunion
http://www.kontakte-kontakty.de/deutsch/ns-opfer/kriegsgefangene/
https://de.wikipedia.org/Sowjetische_Kriegsgefangene_Deutschem_Gewahrsam