Bezirk Šiauliai

Der Ort
Der ehemalige Jüdische Friedhof Žagarė, eine der ältesten Städte Litauens, zählt heute (2010) etwas mehr als 2.000 Einwohner. Die Stadt, ca. 60km nordöstlich von Šiauliai, wird vom Fluss Švėtė durchquert und liegt direkt an der Grenze zu Lettland. Žagarė ist von Šiauliai aus auf der Straße Nr. 154 bis Kruopiai und von dort aus weiter auf der Str. Nr.153 zu erreichen. 2015 war Žagarė Kulturhauptstadt Litauens. Im 19. Jahrhundert galt die Stadt als ein Zentrum der jüdischen Aufklärung („Haskala“) und wird für die damalige Zeit als „Stadt voll von Gelehrten und Schreibern“ gerühmt (Aring 1997), aus der zahlreiche Rabbiner, Wissenschaftler und Schriftsteller (unter ihnen die Familie Mandelstam, aus der Ossip Mandelstam stammte, der 1938 in einem stalinistischen Gulag ermordete Schriftsteller). In Žagarė mit seiner blühenden jüdischen Gemeinde, mit mehreren Synagogen, jüdischen Schulen, Banken und Geschäften machten Ende des 19. Jahrhunderts die jüdischen Einwohner fast 70% der Bewohnerschaft aus (die Stadt zählte damals insgesamt ca. 8.000 Einwohner); 1923 war die Zahl der jüdischen Einwohner nach Auswanderungswellen auf knapp 2.000 zurückgegangen. Nach der Annexion Litauens durch die Sowjetunion 1940 wurden jüdische Organisationen und Einrichtungen – mit Ausnahme der Bibliothek – geschlossen, jüdische Geschäfte enteignet, neben nichtjüdischen Litauern fielen auch Juden als „antisowjetische Elemente“ im Juni 1941 der Deportation nach Sibirien zum Opfer.

Die Ereignisse nach dem deutschen Einmarsch
Am 25. Juni 1941 marschierten Truppen der deutschen Wehrmacht in Žagarė ein. Ende Juni bildeten litauische Nationalisten der LAF ein Komitee unter dem Vorsitz von Stanislovas Kačkys und übernahmen mit einer Gefolgschaft von einigen Dutzend Nationalisten und ehemaligen Polizisten in engem Kontakt mit der LAF-Zentrale in Šiauliai die örtliche Exekutive. Diese Gruppe wurde unter dem Namen „Hauptquartier der Žagarė Aktivisten“ regional rasch bekannt. Nach dem Abzug der sowjetischen Behörden Ende Juni 1941 begann die Gruppe mit der Verfolgung bisheriger Unterstützer der sowjetischen Verwaltung, einige dieser Unterstützer wurden Anfang Juli inhaftiert, unter ihnen drei Juden; sie wurden unter dem Kommando des Polizeichefs der Stadt am Rand des litauischen Friedhofs erschossen. 

Gedenkstein am Eingang zum jüdischen Friedhof

Diesen Aktionen schloss sich unmittelbar die Verfolgung der jüdischen Bewohner der Stadt an. Die Aktivistengruppe forderte  noch im Juli von den Juden der Stadt eine Kontribution in Höhe von 30.000 Rubeln. Hunderte Juden wurden in die Synagoge eingesperrt, misshandelt, zahlreiche von ihnen auf dem jüdischen Friedhof und im nahen Wald erschossen. Zeitzeugen berichteten, wie jüdische Kinder mit ihrer Lehrerin aus der Schule getrieben und auf dem Marktplatz erschossen wurden. Den betagten Rabbiner holten Aktivisten aus seinem Haus und zwangen ihn, sich vor seinen Pferdekarren spannen zu lassen, den er unter Gejohle durch die Stadt ziehen musste bis er zusammenbrach und starb. Für die jüdische Bevölkerung wurde Ende Juli 1941 ein mit Stacheldraht umzäuntes, von Litauern bewachtes Ghetto eingerichtet. Es lag in zwei getrennten Bezirken auf beiden Seiten der Švėtė. In das ursprünglich für mehrere hundert Menschen geplante Ghetto wurden Ende August 1941 auf Anordnung des Chefs der litauischen Kreisverwaltung, Jonas Noreika, der sich auf eine Anweisung des Gebietskommissars Gewecke bezog, auch Juden aus Šiauliai, Joniškis, Kuršėnai, Pakruojis, Kelmė, Radviliškis und anderen Orten dorthin geschafft. Im Ghetto waren schließlich über 2.400 Männer, Frauen und Kinder eingepfercht. Tagsüber wurden die Arbeitsfähigen zu Zwangsarbeit im Wald eingesetzt. Im Ghetto fehlten Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen und medizinische Versorgung, täglich kam es zu Überfällen und Plünderung durch Litauer.

Ende August 1941 wurde eine Gruppe von 38 jüdischen Männern von einem Trupp „Weißarmbindern“ und litauischen Polizisten unter dem Kommando des örtlichen Polizeichefs, Juozas Krutulis, auf den jüdischen Friedhof getrieben und dort am Rand von vorbereiteten Gruben ermordet.

 

Der große Massenmord an den im Žagarė-Ghetto gefangenen Juden begann am 2. Oktober 1941, einen Tag nach Yom Kippur. Die Mordaktion wurde vom deutschen Stadtkommandanten, gleichzeitig Leiter der Außenstelle des Arbeitsamtes, Josef Böhm (er hatte den Namen Manfred von Manteuffel angenommen), angeordnet. Bereits einige Tage zuvor waren über hundert litauische Männer gezwungen worden, im Stadtpark Naryshkin eine Grube auszuheben. Auf Befehl von Böhm und unter dem Vorwand, sie an einen besseren Ort zum Arbeiten zu bringen, mussten sich die Juden aus dem Ghetto auf dem Marktplatz versammeln. Kurz darauf schossen „Weißarmbinder“ und litauische Polizisten in die versammelte Menge und töteten wahllos Männer, Frauen und Kinder. Verwundete und Überlebende wurden danach auf Lastwagen in den Naryshkin Park gebracht und dort erschossen, nachdem ihnen vorher letzte Wertsachen abgenommen worden waren und sie sich bis auf die Unterwäsche hatten entkleiden müssen; Kinder und Säuglinge wurden lebend in die Gruben geworfen. Verantwortlich für das Massaker waren SS-Männer aus Šiauliai, Polizisten der ersten Kompanie des 14. litauischen Polizeibataillons von Šiauliai unter der Führung des Rechtsanwalts Kolokša sowie „Weißarmbinder“ aus Žagarė und Linkuva.

Gedenkort für die Opfer vom 2. Oktober 1941

Der Bericht des SS-Einsatzkommandos 3 vom 1. Dezember 1941 („Jäger-Bericht“) nennt für das Massaker vom 2. Oktober 1941 die Zahl von 2.236 Opfern: 633 Männer, 1.107 Frauen und 496 Kinder. Eine 1944 eingesetzte sowjetische Kommission mit dem Auftrag, die Leichen zu exhumieren, berichtet von einer etwas höhere Zahl exhumierter Leichen. Überlebt haben nur wenige das Blutbad, Zeitzeugen erzählten von erfolgreich versteckten und geretteten Juden; ebenfalls nur wenige Juden haben Verbannung und Flucht in die Sowjetunion (Juni 1941) überlebt. Aizikas Mendelsonas [Isaak Mendelssohn], geboren 1922, war der letzter Jude in der ehemaligen Hochburg jüdischen Lebens in Žagarė, er starb im September 2011.

 

Gedenken an die Opfer der Morde vom August 1941
Ein Gedenkstein am Eingang des jüdischen Friedhofs erinnert an die Männer, die Ende August 1941 dort ermordet worden sind. Man erreicht den Gedenkort vom Zentrum Žagarės aus, indem man auf der Raktuvės-Straße geradeaus fährt; nach Verlassen der Stadt biegt man nach ca. 500m auf eine Schotterstraße nach rechts ein, danach führt ein Privatweg zum alten Jüdischen Friedhof. Der 1994 errichtete Gedenkstein am Eingang trägt folgende Inschrift in Litauisch und Jiddisch: „Hier ermordeten die Nazis und ihre lokalen Kollaborateure ungefähr 40 Menschen jüdischer Herkunft.“
56.35371639  23.23234139 / 56°21’13.38N  23°13’56.43E

 

Gedenkort für die Opfer des Massakers vom 2. Oktober 1941
GedenksteinVon Joniškis nimmt man die Straße Nr. 153 nach Žagarė; ca. 100m nach dem Ortseingang weist rechts ein blaues Hinweisschild die Richtung zum Gedenkort (Žydų genocido aukų kapai). Diesem Hinweisschild folgend erreicht man nach ca. 150m auf der rechten Seite das Mahnmal. Die Inschrift in Litauisch und Jiddisch lautet: „An diesem Ort ermordeten am 2. Oktober 1941 Nazimörder und ihre lokalen Helfer etwa 3.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem Bezirk Šiauliai.“
56.36150639  23.27512500 / 56°21’41.42N  23°16’30.45E 

Literatur / Medien
Aring, Paul Gerhard: Wege durch die Žemaitija. Impressionen jüdischen Lebens in Litauen. Köln: Mare Balticum 1998; Ders.: Erinnern – Nicht Vergessen – Juden im Baltikum, in: http://annaberger-annalen.de/jahrbuch/1997/AnnabergerAnnalenAusgabe5.pdf, S. 108-116 (Zitat S. 109); Bubnys, Arunas; The fate of Jews in Šiauliai  and the Šiauliai Region, in: The Vilna Gaon State Jewish Museum (Hg): The Šiauliai  Ghetto: Lists of Prisoners, Vilnius 2002, S.228-259 (zu Žagarė: S. 254ff.); Ders.: Die litauischen Hilfsbataillone und der Holocaust, in: Bartusevičius u.a. (Hg.): Holocaust in Litauen, 2003, S. 127f.; Dieckmann 2011, Bd. 2, S. 843-847; Holocaust Atlas 2011, S. 157-159; Zwi, Rose: Letzter Spaziergang Naryshkin Park. Reise in eine fremde Heimat, Berlin 2004 (Über das Massaker vom 2. Oktober 1941 und die dabei getöteten Familienangehörigen der Autorin).

http://www.holocaustatlas.lt/EN/#a_atlas/search//page//item/106/
http://www.holocaustatlas.lt/EN/#a_atlas/search//page//item/107/
https://www.jewishgen.org/yizkor/pinkas_lita/lit_00277.html
https://kehilalinks.jewishgen.org/zagare/
https://yahadmap.org/#village/agar-zhager-zhagare-scaron-iauliai-lithuania.680
https://www.nytimes.com/2011/11/08/opinion/cohen-the-last-jew-in-zagare.html
https://translate.google.com/translate?hl=de&sl=lt&tl=en&u=http%3A%2F%2Fwww.bernardinai.lt%2Fstraipsnis%2F2018-11-04-zagares-geto-misles%2F172628&sandbox=1 (engl. übersetzter Text von Evaldas Balčiūnas)