Die jüdische Bevölkerung stellte immer eine starke Minderheit innerhalb der Gesamtbevölkerung dar. Sie betrug bis zu ihrer Vernichtung unter der deutschen Besatzung 1941–1944 (Holocaust in Litauen) meist zwischen fünf und zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, in den größeren Städten (z.B. Vilnius, Kaunas, Šiauliai, Panevėžys) und zahlreichen kleineren Städten häufig mehr als ein Drittel, manchmal erreichte sie die Hälfte der Bewohnerschaft.

In Ergänzung zum Sachstichwort (Litauische Geschichte) hier eine kurze Übersicht zur Geschichte des jüdischen Litauen:

13. und 14. Jahrhundert: Einwanderung
Die Zuwanderung von Juden nach Polen und in das Großfürstentum Litauen war die Folge von Vertreibung und Flucht nach Verfolgungen und Pogromen in deutschen Staaten und Städten in der Periode der Kreuzzüge und der Pestepidemie. Die Flüchtlinge brachten die damalige deutsche Umgangssprache mit Elementen aus dem Hebräischen als ihre Sprache mit, das spätere Jiddisch. Privilegien des litauischen Großfürsten erlaubten Religions- und Gewerbefreiheit, die gegen besondere Steuerzahlungen bis in das 16. Jahrhundert wiederholt bestätigt wurden und die wirtschaftliche Entwicklung Litauens förderten. Die jüdischen Gemeinden erhielten weitgehende Selbstverwaltung.

17./18. Jahrhundert: Vilnius als Zentrum des Judentums
Mitte des 17. Jahrhunderts lebten ungefähr ein halbe Million Juden in Litauen. Neben den alten jüdischen Zentren Babylon und Spanien hatte sich nach der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel (1492) in Litauen ein neues Zentrum jüdischer Lebensweise gebildet. Zu deren Selbstverwaltung gehörte u.a. die Schulautonomie mit Schulpflicht für Jungen, so dass binnen kurzer Zeit fast alle Männer lesen und schreiben lernten. Dem Aufstieg folgte eine Krise Mitte des 17. Jahrhunderts, als im polnisch-litauischen Gebiet Hunderte der jüdischen Gemeinden zerstört wurden und viele Juden auswanderten. Ende des 18. Jahrhunderts wendete sich die Entwicklung und in Litauen lebten bald wieder ungefähr 250.000 Juden. Vilnius stieg zu einem geistigen und kulturellen Zentrum des Judentums auf, dessen bekanntester Vertreter der Gaon (der Weise) Elijahu ben Schloma Salman (1720–1797) wurde, Theologe, Wissenschaftler und Befürworter eines eigenständigen Weges der jüdischen Aufklärung.

19. Jahrhundert: Diskriminierung und neue Anerkennung
Nach der Eingliederung Litauens in das zaristische Reich 1795 (dritte polnische Teilung), folgten Jahrzehnte der Diskriminierung und Verarmung, bis in der zweiten Jahrhunderthälfte die Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden schrittweise wieder zugelassen wurde, ohne dabei bürgerliche Gleichberechtigung einzuräumen. Gleichzeitig förderten Hochschulbildung, Sprachkenntnisse und Literatur für eine wachsende jüdische Mittelschicht in den Städten den kulturellen Austausch mit dem westlichen Europa. Liberale jüdische Intellektuelle – Schriftsteller, Gelehrte, Talmudisten, Künstler – wurden Teil des aufgeklärten Aufbruchs, jüdische Druckereien, Zeitschriften und säkulare Literatur entstanden, Handel und Handwerk bekamen Aufwind, akademisches Studium war begehrt, erste freiberufliche Akademiker traten in Erscheinung. Die jüdische Mehrheit auf dem Land blieb jedoch arm und bildungsfern, weshalb Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Auswanderungswelle einsetzte. Um die Wende zum 20. Jahrhundert lebten in Litauen ca. 350.00 Juden bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 2,7 Millionen.

20. Jahrhundert bis 1918
Die wirtschaftliche Entwicklung brachte Konkurrenz mit sich, Anfänge eines „modernen“ Antisemitismus mit der Parole: „Litauen – nur den Litauern!“ wurden sichtbar. Gleichzeitig entwickelte sich Vilnius zu einem Zentrum des Zionismus mit vielfältigen Organisationen. 1897 entstand der „Allgemeine Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland“, seit 1901 kurz „Bund“ genannt, der im Gegensatz zum Zionismus für den Verbleib in den entstehenden Nationalstaaten und für den Kampf um Autonomierechte eintrat. Für die Mehrheit der jüdischen Organisationen, ob religiös oder säkular, war die Unterstützung der national-litauischen Bewegung jedoch selbstverständlich. Der Erste Weltkrieg brachte allerdings Deportationen: zuerst durch das zaristische Militär, das den Juden generell Spionage und Verrat unterstellte, dann Verfolgung durch die deutsche Besatzung 1915–1918. Tausende jüdische Litauer flohen nach Russland, von wo sie nach Gründung des unabhängigen Litauen im Februar 1918 großteils wieder zurückkehrten.

1918–1926: „Goldene Jahre“ und Rückschritte
Blick in das Ghetto von Vilnius nach der polnischen Besetzung 1920Jüdische Institutionen und Organisationen unterstützten die politische Stabilisierung des neuen Litauen. Zahlreiche jüdische Persönlichkeiten waren Mitglieder der Verfassungsversammlung und des Parlaments; den Regierungen gehörten drei jüdische Minister an, davon einer für jüdische Angelegenheiten. Entsprechend der von Litauen unterzeichneten „Pariser Erklärung“ (1919) wurde die innere Autonomie der jüdischen, polnischen, deutschen und russischen Minderheiten (Religion, Kultur, Bildung) geachtet, deren Gleichberechtigung schien gesichert. Im Parlament konnte Jiddisch gesprochen werden, Straßenschilder mit hebräischen Bezeichnungen waren erlaubt, Juden waren in allen gesetzlichen Instanzen vertreten. Der Verlust des Vilnius-Gebiets durch die polnische Annexion (1923) schwächte jedoch nicht nur das jüdische Gewicht insgesamt, sondern ließ die konservativ-christdemokratischen Kräfte mit deren Forderung nach einer „homogenen“, rein litauischen Nation erstarken. Das Ministerium für jüdische Angelegenheiten wurde 1924 wieder abgeschafft, die Aktivität des 1920 gewählten jüdischen Nationalrats verboten, Minderheitenrechte wurden reduziert. Die interne Autonomie der jüdischen Bildungs-, Kultur- und Wohlfahrtseinrichtungen blieb jedoch unangetastet.

1926 bis 1940: Autoritäres Smetona-Regime und zunehmender Antisemitismus
Mit dem Militärputsch, der 1926 die Diktatur durch Antanas Smetona installierte und das parlamentarische System beseitigte, kam die Wende. Zwar blieb die Regierung bis zum Einmarsch der Sowjettruppen 1940 bei ihrem offiziellen Verbot antisemitischer Aktionen, konnte aber nicht verhindern, dass sich innenpolitisch eine zunehmend antisemitische, an einigen Orten auch gewalttätige Stimmung entwickelte. Träger der aggressiven, antisemitischen und antipolnischen Propaganda waren im Umfeld der Organisation „Eiserner Wolf“ (Augustinas Valdemaras) paramilitärische Verbände, Studenten und junge Offiziere, die ihre Vorbilder u.a. im italienischen und deutschen Faschismus sahen. Die eskalierende Agitation richtete sich „gegen Juden, Polen und Kommunisten“. Die jüdischen Gemeinden vertrauten trotzdem weiter auf staatlichen Schutz. Dieses Vertrauen schien nach der Rückgabe der Vilnius-Region an Litauen im Oktober 1939 (s. Hitler-Stalin-Pakt) bestätigt, als sich in den acht Monaten bis zur sowjetischen Annexion Litauens (1940) in Vilnius eine kurze Blütezeit jüdischer Kultur entwickelte: die Begegnung jüdischer Flüchtlinge aus Polen mit den wieder vereinigten Juden aus Litauen führte zu einer Reihe von kulturell-wissenschaftlichen Veranstaltungen vor allem im Umkreis des YIVO-Instituts. Sie wurden zum „Schwanengesang“ dieser großen jiddisch-wissenschaftlichen Einrichtung, die von der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1943 ausgeraubt und vernichtet wurde.

Der Einmarsch der sowjetischen Truppen im Juni 1940 und die Errichtung der Sowjetrepublik Litauen beendeten alle Hoffnungen auf ein jüdisch-litauisches Zusammenleben in einem unabhängigen Litauen. Der im Juni 1941 folgende deutsche Einmarsch bedeutete den Beginn des litauischen Holocaust (Überfall auf die Sowjetunion, Holocaust in Litauen).


Literatur / Medien
Atamuk, Solomon: Juden in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick, hg. von Erhard Roy Wiehn 2000; Dieckmann 2011, S. 15ff., 46ff.; Tauber, Joachim / Tuchtenhagen, Ralph: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt, Köln u.a. 2008;
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Litauen
https://www.fold3.com/page/286160648_vilna_ghetto_partisants#description (Foto)
http://www.dw.com/de/die-bruchst%C3%BCcke-zusammentragen/a-1622063
http://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/vilna/overview.asp
http://www.encyclopedia.com/religion/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/lithuania