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Kudirkos Naumiestis

Bezirk Marijampolė

Der Ort
Kurdikos Naumiestis, eine Kleinstadt im südlichen Litauen mit über 1.700 Einwohnern (2011). liegt in der Region Suvalkija, ca. 50 km nordwestlich von Marijampolė und ca.25 km von Sakiai entfernt, am Zusammenfluss der Flüsse Šešupė und Širvinta. Die Stadt mit ihrem früheren Namen Vladislavovas wurde nach dem 1. Weltkrieg zum Gedenken an den Verfasser der litauischen Nationalhymne Vincas Kurdika, in Kurdikos Naumiestis umbenannt. Man erreicht die Stadt vom Marijampolė aus auf der A7.

Die Ereignisse
Vorgeschichte
Über Jahrhunderte war die Stadt Grenzort zu Ostpreußen und geriet – seit Ende des Ersten Weltkriegs – als litauische Stadt auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes (August 1939) mit der ganzen Region Suvalkija in das sowjetische Interessengebiet. Damals lebten in Kurdikos Naumiestis unter den etwa 3.000 Einwohnern ungefähr 750 Juden. Ein Zusatzvertrag zwischen der Sowjetunion und Deutschland revidierte im Herbst 1939 die Grenzziehung der Interessengebiete beider Staaten und ordnete einen großen Teil der Region Suvalkija dem deutschen Reich zu, nicht jedoch Kurdikos Naumiestis. Dem Rückzug sowjetischer Truppen aus dem nun an Deutschland gefallenen Gebiet schlossen sich zahlreiche junge, auch jüdische Litauer an. Im Anschluss an die Grenzkorrektur vertrieben die deutschen Behörden die in der Region Suvalkija verbliebenen Juden in Richtung Litauen, plünderten deren Häuser und konfiszierten das Eigentum der jüdischen Familien. Die litauischen Behörden hielten dagegen die Grenze geschlossen, sodass die von den Deutschen vertriebenen Juden mittel- und hilflos mehrere Wochen in Kälte und Regen in einem sumpfigen Gebiet ausharren mussten, bis junge Juden aus den Grenznahen litauischen Ortschaften unter hohem Risiko eine große Zahl von ihnen auf die litauische Seite schmuggeln konnten. Ca. 2.400 jüdische Flüchtlinge fanden Aufnahme in den jüdischen Gemeinden der Region, unter anderem auch in Kurdikos Naumiestis, wo sie jedoch nur vorübergehend in Sicherheit waren.

Nach der Besetzung und Annexion Litauens im Juni 1940 durch die Sowjetunion wurden zahlreiche jüdische Geschäfte in Kurdikos Naumiestis enteignet, viele der Besitzer in die Sowjetunion deportiert, jüdische Organisationen und Parteien wurden verboten.

Gedenkstätte Jüdischer FriedhofMassaker in Kurdikos Naumiestis
Am Morgen des 22. Juni 1941 marschierten deutsche Truppen, ohne Widerstand zu stoßen, auch in Kurdikos Neumiesties ein. „Bereits in den ersten Stunden des deutschen Angriffs (starben) mindestens fünf jüdische Zivilisten durch willkürliche Schießereien der deutschen Soldaten…“ (Diekmann, S. 885) Noch am 22 Juni bildete sich ein litauisches Komitee aus Ärzten und Anwälten und übernahm die Ortsgewalt. Die Stadt wurde einem 25 km langen Gebietsstreifen nahe der litauisch-deutschen Grenze zugeordnet (Klaipeda-/Mememgebiet). Der Kommandant der dem deutschen Militär gefolgten SS-Einsatzgruppe A, SS-Standartenführer Walter Stahlecker, unterstellte diesen Gebietsstreifen dem SS-Sicherheitsdienst Tilsit mit dem Auftrag, ihn von Juden und Kommunisten zu „säubern“. Am 25. Juni wurden alle jüdischen Männer auf den Marktplatz beordert und anschließend unter Aufsicht von litauischen „Weißarmbindern“ zu Zwangsarbeit in der Stadt, u.a. zu Straßenarbeiten und zur Stadtreinigung, eingesetzt. Nach der Rückkehr von einem ihrer Arbeitseinsätze Anfang Juli wurden alle Männer vom 14. Lebensjahr an auf Befehl von SS-Sturmbannführer Hans Joachim Böhme (Gestapo-Chef Tilsit) und von bewaffneten Litauern, Männern des SD Tilsit unter dem Kommando von SS-Sturmführer Werner Hersmann vor dem Gemeindehaus zusammengetrieben. Stadtangestellte nahmen ihnen Dokumente, Geld und Wertsachen ab, man trieb sie in 50er Gruppen zum jüdischen Friedhof, wo sie am Rande von Gruben, die von sowjetischen Kriegsgefangenen ausgehoben worden waren, erschossen wurden. Unter den Zuschauern waren der litauische Distriktgouverneur und der Bürgermeister der Stadt, der nach dem Morden für die Beteiligten ein Bankett veranstalten ließ und ihnen Anerkennung aussprach.

Insgesamt fielen der Mordaktion Anfang Juli 192 jüdische Männer zum Opfer, neun Entkommene wurden wieder eingefangen und ebenfalls umgebracht. Den Familien der Mordopfer wurde mitgeteilt, die Männer seien zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt worden. Jüdische Frauen mussten nun deren Arbeit übernehmen. Für die übrig gebliebene jüdische Bevölkerung wurde am 23. August 1941 ein Ghetto in zwei heruntergekommenen Gassen der Stadt eingerichtet

Massaker in Paražniai
Am 16. September 1941 wurde dieses Ghetto von litauischen Hilfstruppen und Weißarmbindern aufgelöst, 650 Männer, Frauen und Kinder in Lastwagen zum Wald von Paražniai transportiert und dort an bereits ausgehobenen Gruben erschossen. Nur eine Frau und ihre vier Kindern wurden von litauischen Bauern versteckt und gerettet.

Massaker in Žyniai
Žyniai ist ein kleines Dorf in der Nähe von Kurdikos Naumiestis. Vor dem deutschen Einmarsch hatten in der Nähe der Straße von Kurdikos Naumiestis nach Žyniai sowjetische Truppen Antipanzer-Gruben ausgehoben. Zwischen 1941 und 1942 wurden bei Žyniai etwa 2000 Menschen ermordet: nach Zeitzeugenberichten waren es überwiegend jüdische Frauen und Kinder und sowjetische Kriegsgefangene aus dem Gefangenenlager von Kurdikos Naumiestus.

Gedenken
Gedenkstein auf dem FriedhofGedenkort I: Jüdischer Friedhof
Man fährt auf der Tilto Straße stadtauswärts, bis diese Straße zu einer Staubstraße wird, Ihr folgt man bis zu einem braunen Hinweisschild (Zydu Kapai Masiniu Zudyniu Kapai) und biegt danach rechts ab. Man gelangt zum alten jüdischen Friedhof, an dessen Eingang ein schwarzer Markstein steht. Der Gedenkstein auf dem Friedhof trägt die Inschrift (Litauisch und Jiddisch): „Hier sind 800 Juden aus Kurdikos Naumiestis begraben, die von den Nazis und ihren örtlichen Helfern von Juli bis September 1941 ermordet wurden. Ungefähr 150 Männer und ungefähr 650 Kinder und Frauen wurden hier im Wald von Paražniai ermordet“
GPS 54.77193972 22.85032000 / 54°46.3164'N 22°51.0192'E

Gedenkort II: Wald von Paražniai
An der Straße 5103 von Kudirkos Naumiestis nach Kybartai befindet sich nach ca. 4 km rechts ein Straßenschild in Richtung Keturkaimis. Man passiert dieses Schild und biegt an einem blauen Schild bei Straßenkilometer 12 nach links in eine Staubstraße ein (Parazniu g.), der man bis zum Ende folgt, um dann nach links abzubiegen. Man fährt weiter Richtung Wald bis zu einer Weggabelung: dann nicht rechts am Waldrand entlang, auch nicht geradeaus in den Wald hinein, sondern halb links den Waldweg entlang. Nach ca. 300 Metern gelangt man linker Hand zur Gedenkstätte.
Die Inschrift auf dem Gedenkstein lautet (Litauisch und Jiddisch): „Hitlers Mörder und ihre lokalen Kollaborateure ermordeten 650 Juden aus Kurdikos Naumiestis – Kinder, Frauen und Männer – hier am 16. August 1941
GPS 54.72884639 22.87012806 / 54°43.7308'N 22°52.2077'E

Gedenkstätte Paražniai Gedenkstein für die Opfer Steinmonument der Gedenkstätte

Gedenkstätte ŽyniaiGedenkort III: Žyniai
Von Kudirkos fährt man auf der Straße 138 in Richtung Vilkaviskis. Im Ort Iskartai zeigt rechter Hand ein blaues Straßenschild in Richtung Virbalis (13 km). Gegenüber von diesem Schild biegt die Schotterstraße links nach Žyniai ab. Man folgt ihr bis zum Ende und biegt auf der asphaltierten Straße rechts in Richtung Sudava ab. Die Gedenkstätte liegt genau in einer Straßenkurve auf der linken Seite, der Gedenkstein trägt folgende Inschrift (Jiddisch und Litauisch): „Hier ruhen die Überreste von ca. 2000 Juden und Menschen anderer Nationalitäten, die während Hitlers Okkupation 1941 – 1942 hier ermordet wurden.
GPS 54.73881139 22.98517139 / 54°44.3287'N 22°59.1103'E

Gedenktafel für sowjetische Opfer auf dem jüdischen FriedhofSowjetische Kriegsgefangene
Beim Rückzug der sowjetischen Armee 1941 gerieten mehrere Tausend Soldaten in Gefangenschaft, ihre Familienangehörigen wurden in Häuser geflüchteter oder vertriebener Juden eingesperrt. Am Rand eines kleinen Flusses in Kurdikos Naumiestis wurde ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene eingerichtet, die u.a. zum Ausheben der Gruben eingesetzt wurden, an denen Juden bei den Massakern ermordet worden sind. Allein von 1941 bis 1942 fielen ca. 11.500 Gefangene in diesem Lager den harten Arbeitsbedingungen, Hunger, Kälte, Krankheiten und Mordaktionen zum Opfer.

Strafprozesse nach 1945
Im Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 wurde eine Reihe der für die Massaker in Kurdikos Naumiestis verantwortlichen SS-Angehörigen verurteilt (Gerichtsprozesse/Ulmer Einsatzgruppenprozess), unter ihnen die SS-Offiziere Hans-Joachim Böhme und Werner Hersmann. Die für die Mordtaten in dieser Region mitverantwortlichen SS-Offiziere Werner Scheu und Karl Struve wurden 1964 vom Schwurgericht Aurich zunächst nur wegen Beihilfe zum Mord in hunderten Fällen u.a. in Kurdikos Naumiestis verurteilt. Nach Korrektur durch den Bundesgerichtshof 1965 lautete das Urteil: lebenslange Haft wegen Mord. Scheu war nach 1945 unbehelligt als Kinderarzt und Leiter eines Kindersanatoriums auf der Insel Borkum tätig. Dies deckte erst 2020 ein Bericht von ARD-Report Mainz auf, der zudem recherchiert hatte, dass Werner Scheu in seiner Funktion als Kinderarzt für systematische Misshandlung von Kindern verantwortlich war.

Literatur / Medien
Dieckmann (2011), Bd. 2, S. 885f.; Dieckmann Ch., Sužiedėlis S., The Persecution and Mass Murder of Lithuanian Jews during Summer and Fall of 1941, Sources and analysis, Vilnius, 2006, S. 155; Lithuanian Holocaust Atlas (2011), S. 114/115, 121/122/123,
Urteil Landgericht Aurich 26.06.1944 / Urteil Bundesgerichtshof 24.08.1965, in: C.F. Rüter/D.W. Wildt (Hg.): Justiz und Verbrechen, Amsterdam, München 1968 ff, Bd. XX, S. 579 ff.
wiki-de.genealogy.net/Kudirkos_Naumiestis
www.holocaustatlas.lt/EN/#a_atlas/search//page//item/28/
www.holocaustatlas.lt/EN/#a_atlas/search//page//item/35/
www.holocaustatlas.lt/EN/#a_atlas/search//page//item/42/
kehilalinks.jewishgen.org/Naishtot/naishtot3.html
www.spiegel.de/politik/die-sechs-geschworenen-und-das-massaker-von-naumiestis-a-29f19f54-0002-0001-0000-000046274210