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Region Provence-Alpes-Cote d'Azur, Departement Bouches-du-Rhône

Der Ort
Großer Hafen am Mittelmeer, mit 863.000 Einwohner*innen (2017) die zweitgrößte Stadt Frankreichs, Hauptstadt der Region Provence-Alpes-Cote d'Azur (PACA) und des Departements Bouches-du-Rhône, Europäische Kulturhauptstadt 2013. Autobahnen A 7 und A 51; TGV-Bahnhof.

Die Ereignisse
Marseille war Anlaufpunkt für unzählige Flüchtlinge; zahlreiche Fluchthilfe-Organisationen waren tätig, ebenso Nachrichtendienste, illegale Zeitungen wurden verbreitet; ab 1943 verstärkten die Widerstandsgruppen ihre Aktionen.
Im Januar 1943 wurden bei einer Razzia tausende Einwohner*innen vorübergehend evakuiert oder deportiert; das Viertel am alten Hafen wurde auf deutschen Befehl gesprengt. Marseille wurde im August 1944 von der Résistance und freifranzösischen Truppen befreit.

Hotel Bompard, heutiger Zustand Benennung eines Platzes nach Gilberto Bosques Gedenktafel Varian Fry

Drehscheibe für Verfolgte und Flüchtlinge

Seit 1933 kamen tausende von Flüchtlingen (Gegner der faschistischen Regime in Deutschland und Italien, Juden) aus Deutschland, Italien, Österreich, Polen, Tschechien sowie Holland, Belgien usw. nach Marseille. Die Hafenstadt war erster Anlaufpunkt, Zuflucht und Durchgangsstation auf dem von vielen erhofften Weg nach Übersee. Die Bedingungen verschlechterten sich insbesondere nach der deutschen Invasion in Frankreich und unter Vichy, das Ausländer und Juden stärker kontrollierte, teilweise internierte. In Marseille wurden sie in mehreren Gebäuden zwangsweise untergebracht, u.a. dem Hotel Bompard, 2 Rue des Flots Bleus.
Hilfs- und Fluchthilfeorganisationen versuchten, ihre prekäre Situation zu verbessern und/oder ihnen zu sicherer Unterkunft, zur Ausreise bzw. Flucht über das Mittelmeer oder die Pyrenäen zu verhelfen (z.B. OSE).
Beispiele:
Lisa Fittko engagierte sich nach ihrer Flucht aus dem Internierungslager Gurs in der Fluchthilfe. Zusammen mit ihrem Mann Hans brachte sie etwa 100 Flüchtlinge, darunter den Philosophen Walter Benjamin, über die Pyrenäen nach Spanien (vgl. Portbou).
Der US-Amerikaner Varian Fry hatte den Auftrag erhalten, bedrohte Emigranten vor der Übergabe an NS-Behörden zu retten. Das von ihm geleitete Rettungsnetzwerk unterstützte etwa 2000 Menschen finanziell und war ihnen bei der Ausreise behilflich, darunter viele deutsche/österreichische Schriftsteller*innen, z.B. Hannah Arendt, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Annette Kolb, Alma Mahler-Werfel, Golo Mann, Heinrich Mann, Walter Mehring, Soma Morgenstern, Alfred Polgar, Friedrich Torberg, Franz Werfel (viele von ihnen hatten ihren Asylort Sanary-sur-Mer verlassen müssen). Eine Gedenktafel ehrt Fry vor dem US-Generalkonsulat, Place Varian Fry/Boulevard Paul Peyrat Marseille 1°, nahe Canebière. Eine Stele befindet sich auch in Berlin, Potsdamer Platz 1.
Der mexikanische Generalkonsul Gilberto Bosques half nach dem Sieg Francos über die spanische Republik tausenden spanischen Republikanern und Interbrigadisten bei der Überfahrt nach Mexiko – Mexiko unter Präsident Lázaro Cardenas hatte als einziges westliches Land die Spanische Republik unterstützt und bedrohten Menschen, Kämpfern und Künstlern Einreisevisa versprochen. Bosques stellte außerdem verfolgten deutschen Antifaschisten und Schriftstellern – z.T. ohne offizielle Genehmigung – Visa aus und ermöglichte ihnen so die Flucht nach Mexiko, u.a. Anna Seghers, Marie Pappenheim, Max Diamant, Hanns Eisler, Alfred Kantorowicz, Egon Erwin Kisch. Ein Platz bei der Présidence der Region PACA in Marseille trägt seinen Namen, 7 Place Jules Guesde, Marseille 2°; am Gebäude, 7 Square Stalingrad, Marseille 1°, ist eine Gedenktafel angebracht.


Widerstand
Widerstandsgruppen wie Combat waren seit 1941 mit ihren illegalen Zeitungen präsent. Henri Frenay rekrutierte ab Dezember 1940 unter Armeeangehörigen für seine Bewegung. Die Sozialistische und die Kommunistische Partei wurden wieder aktiv, ebenso der neu gegründete Front National (Résistance). Spontane Protestaktionen fanden z.B. am 14. Juli 1942 statt, ebenso große Hausfrauendemonstrationen wegen des Nahrungsmangels. Mit der deutschen Besatzung ab November 1942 begannen bewaffnete Aktionen (Sabotage, Attentate). Viele Résistance-Führer und Helfer, darunter Irene Wosikowski, die Aufklärungsarbeit für Travail Allemand unter deutschen Soldaten machte, wurden 1942-1944 von der Gestapo verhaftet; einer ihrer Folterkeller war in der Rue Paradis Nr. 425.
Nach einem Lohnstreik im März 1944 erfasste der sog. „Brotstreik“ („500 Gramm Brot jeden Tag“) im Mai die Arbeiter der größten Industriebranchen und mobilisierte mehrere 10.000 Frauen in Demonstrationen. Die Bewegung wurde nach dem verheerenden US-Bombardement am 27. Mai 1944 (fast 2.000 Tote) abgebrochen. Nach der Landung in der Normandie strömten zahllose Männer in die Maquis – FTP, KPF und Gewerkschaft riefen zum Verbleib in der Stadt auf – auch mit Blick auf den vorzubereitenden Volksaufstand. Nach der Landung in der Provence war die Résistance trotz schwerer Verluste aktiv an der Befreiung beteiligt.


Friedhof St.-Pierre: Denkmal der Deportierten Gedenktafel an die Gestapo-Opfer, Rue Paradis Nr. 425 Totendenkmal Gedenktafel am Totendenkmal Gedenktafel für ORA-Angriff

Gedenken
Viele Tafeln erinnern an Widerstand und Repression. Auf dem Friedhof Saint-Pierre steht das Monument des Déportés (Deportierten-Denkmal; Carré 8, nahe beim Haupteingang, 380 Rue Saint-Pierre, Marseille 5° (Métro M 1 La Timone)). Die Tafel am ehemaligen Gestapo-Gebäude, 425, Rue Paradis/Boulevard du Dr Rodocanach, Marseille 8°, erinnert an die Misshandlungen hunderter Widerstandskämpfer*innen sowie die Inhaftierung und Deportation zahlreicher Juden. Leiter der SiPo-SD/Gestapo war Ernst Dunker. Am Fuß des Totendenkmals, 220 La CanebièreMarseille 1° erinnern zahlreiche Tafeln an Widerstandshandeln und Repression. Eine kleine Tafel erinnert an den Angriff von ORA-Kämpfern im August 1944 auf ein großes Gebäude, das zu einer „deutschen Festung“ ausgebaut worden sei (heute Finanzamt; 3 Place Sadi-Carnot, Marseille 1°).

Massenrazzia, Judendeportation, Sprengung des Hafenviertels 
Das nördlich des alten Hafens gelegene Viertel galt der deutschen Wehrmacht als Hochburg Krimineller, Schieber, Widerständiger und somit als Sicherheitsrisiko. Reichsführer-SS Himmler ordnete Anfang Januar 1943 die Zerstörung der Gebäude und die Deportation der Bevölkerung an. Sicherheitsinteressen der Wehrmacht, Immobilienspekulation und die Jagd auf Juden und Widerständler waren im Spiel. Wehrmacht, SS und Vichy-Polizei arbeiteten zusammen, SS-Führer Oberg und Vichy-Polizeichef Bousquet waren zeitweise vor Ort. 

Am 22. und 23. Januar 1943 führten große französische Polizeikräfte eine Massenrazzia in Marseille durch, 40.000 Menschen wurden überprüft, 6000 zeitweilig festgenommen und u.a. im Gefängnis Les Baumettes inhaftiert. 1.642 von ihnen wurden ins Internierungslager Compiègne transportiert, die meisten wenig später in das KZ Sachsenhausen deportiert. 780 Juden wurden am 23. und 25. März 1943 in die Vernichtungslager Sobibor und Auschwitz deportiert, keiner überlebte.

Gedenktafel-Inschrift Gefängnis Les Baumettes Namen der Shoah-Opfer (Ausschnitt); Quelle: Crif Marseille Mémorial des Déportations Quelle: tourisme-marseille Mauer der Namen; Quelle: Ville de Marseille Mémorial de la Déportation et de la Résistance Große Synagoge Gedenktafel am Opernplatz

Gedenken
An einem kleinen Platz erinnert eine Tafel an die Sprengung des Hafenviertels und die Evakuierung der alteingesessenen Bewohner*innen (Place de Lenche/Ecke Rue Thomé, Marseille 2°). Das Mémorial de la Déportation, de l'Internement et de la Résistance mahnt „unsere Verschollenen, Internierten, Deportierten, in den Nazi-Lagern Umgekomenen, Opfer der tragischen Evakuierung des alten Hafenviertels“ nie zu vergessen, Text auf einer Bodenplatte (Place du Mazeau / Place du 23 Janvier 1943, Marseille 2°).
Eine Gedenktafel am Opernplatz erinnert an die Deportation im Januar 1943 und die Ermordung der Mitglieder von 250 jüdischen Familien „aus dem einzigen Grund, dass sie als Juden geboren wurden.“  Im Hof der Großen Synagoge befindet sich die „Mauer der Namen“ von jüdischen Opfern der Shoah, die aus Marseille und Umgebung in die Todeslager deportiert worden sind und von denen „nichts blieb außer der Name“ (Simone Veil) (117 Rue Breteuil, Marseille 6; Metro M1, Estrangin).
Im Dezember 2019 ist die Gedenkstätte der Opfer der Deportationen (Mémorial des Déportations) eröffnet worden (im Gebäude des seit 2012 geschlossenen Mémorial des Camps de la Mort). Sie gilt den Menschen, die aus rassistischen oder politischen Gründen, als Resistants oder Geiseln deportiert worden sind. Z.Zt. sind die Namen von 4000 Deportierten dokumentiert, weitere sollen nach und nach dazu kommen (Avenue Vaudoyer, Marseille 2°, Zugang über Passerelle oder vom MuCEM).
Zwei Tafeln am Gefängnis Les Baumettes, 239 Chemin du Morgiou, gedenken der Widerstandskämpfer, die in der Vichy- und Besatzungszeit hier eingekerkert waren.

Befreiung
Nach der Landung in der Normandie gingen viele junge Männer in die Maquis (z.B. der Alpenregion). FTP, KPF und Gewerkschaften riefen zum Verbleib in der Stadt auf. Nach der Landung in der Provence näherten sich rasch FFI-freifranzösische Truppen. Am 18. August 1944 riefen das regionale Befreiungskomitee und die Gewerkschaften zum Generalstreik auf, am 21. August wurde das Rathaus besetzt. Am selben Tag zerstörten die Deutschen viele Hafeneinrichtungen und Schiffe. Angesichts der starken deutschen Verbände in Marseille schickte die Résistance einen Hilferuf an die vor den Toren Marseilles liegenden freifranzösischen Truppen, die dann – früher als geplant – in Marseille einrückten. Nach verlustreichen Kämpfen kapitulierten die Deutschen unter General Schaeffer am 28. August. Marseille war befreit.

 

Kathedrale Notre Dame de la Garde Danksagung in der Kathedrale; Foto: H. Oberhofer Panzer „Jeanne d'Arc“

Gedenken
Das Gelände um die Kathedrale 'Notre Dame de la Garde' hoch über der Stadt war heftig umkämpft. Einschussspuren sind noch heute zu sehen. Mit einer Tafel in der Kathedrale danken die Gläubigen der Schutzpatronin Marseilles für ihre Rettung und Befreiung. Jährlich findet am 28. August eine Gedenkveranstaltung statt, vor dem Panzer „Jeanne d'Arc“ (der erste Panzer während der Befreiung in Marseille), 4 Place du Colonel Edon, Marseille 7°, unweit der Kathedrale Notre Dame de la Garde. Viele Tafeln gedenken der während der Befreiung getöteten Résistants und Soldaten.

Literatur/Medien
Meyer, Ahlrich: Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000, bes. S. 114ff.
Varian Fry, Varian/Elfe, Wolfgang D./Hans, Jan (Hg.): Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, Frankfurt 2009 (FiTB)
Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2006, S. 294f., 725f.
ANACR/ONAC 13: La Résistance (Ausstellung), Marseille 2009
Le Patriote Résistant N° 842 (2010), S. 12ff.
http://desincroc.free.fr/chrono3/chrop031.html
http://fr.wikipedia.org/wiki/Bataille_de_Marseille
www.paca.pref.gouv.fr/L-Etat-et-les-citoyens/Defense-et-anciens-combattants/La-Memoire-combattante
https://de.wikipedia.org/wiki/Varian_Fry
http://de.wikipedia.org/wiki/Gilberto_Bosques
www.adk.de/de/aktuell/pressemitteilungen/download_2012/adk_Pressedossier_Mexiko.pdf
https://fr.wikipedia.org/wiki/Mémorial_des_déportations
http://desinroc.free.fr/chrono3/resistance.html 
http://fr.wikipedia.org/wiki/Marseille#La_Seconde_Guerre_mondiale
http://fr.wikipedia.org/wiki/Rafle_de_Marseille