"Die Euthanasie beginnt in Pommern und Westpreußen" (Ernst Klee, S. 95).

Kurz nach Kriegsbeginn bot der NS-Gauleiter von Pommern, Schwede-Coburg, dem Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, die Heilanstalt in Stralsund als (SS-)Kaserne an. Ab Oktober 1939 wurden die Patienten dieser Klinik und anderer Heilanstalten in Pommern per Zug nach Lauenburg in Pommern (ab 1945 Lębork, Polen) transportiert und im nahen Wald von Piasnice erschossen. Schon vorher waren am 27. September Patienten der Klinik im (seit 1920) polnischen Wehjerowo (dt.: Neustadt in Westpreußen) erschossen worden. Bis Anfang 1940 wurden im Piasnice-Wald mindestens 1.200 Patienten aus pommerschen Anstalten erschossen, meist von Männern des SS-Sturmbanns Eimann und des (volksdeutschen) Selbstschutzes. Dort wurden auch tausende andere Menschen erschossen, vgl. Sachstichwort 'Massaker von Piasnitz'/Piasnice .
Am 22. September 1939 wurde die erste Gruppe von Patienten der Anstalt Kocborowo (dt, Konradstein), etwa 50 km südlich von Danzig/Gdansk, in den nahe gelegenen Wald von Spengawsken gebracht und dort ermordet. Die Mordaktion dauerte bis Mitte Januar 1940 und forderte mindestens 1.692 Todesopfer.

Im Herbst 1939 begannen auch im annektierten Warthegau die von regionalen Stellen initiierten Krankenmorde. Aus der Heil- und Pflegeanstalt Owińska (30 km nördlich von Posen/Poznań) wurden etwa 1.000 Patienten im Bunker des Fort VII in Poznań/Posen mit Gas getötet; Himmler hatte sich kurz zuvor die Technik und den Ablauf vorführen lassen. Ebenfalls mit Gas ermordete das SS-Sonderkommando Lange bis Anfang April 1940 etwa 2.700 Patienten der Anstalten Dziekanka/Tiegenhof bei Gnesen, Koscian/Kosten, sowie Kochanowka bei Lodz und Wartha (Schlesien) (vgl. Gerlant, a.a.O., S. 4/5; Klee, S. 105f.). Das Sonderkommando ermordete in den 'Gaswagen' zwischen Mai und Juni 1940 auch die Patienten aus verschiedenen ostpreußischen – damals zum Deutschen Reich gehörenden – Heilanstalten - nach einem Zwischenhalt in einem Lager bei Dzialdowo (deutsch: Soldau).

"Während die Berliner Einsatzzentrale noch die Krematoriumsöfen für die ersten Tötungsanstalten beschafft und das vorgesehene Personal zum letzten Mal Weihnachten im Kreise der Familie verbringt, läuft die Vernichtung der Geisteskranken in den "befreiten" (besetzten) Gebieten bereits auf Hochtouren" (Klee, S. 108). Die Mordaktionen erfolgten in Kenntnis der Diskussionen in den NS-Führungskreisen über die "Euthanasie", aber teilweise v o r und u n a b h ä n g i g von der Aktion T4 im Oktober 1939 (vgl. Klee, S. 100).

Die Ermordung von kranken und behinderten Menschen ging auch nach dem – vorgeblichen - Stopp der Aktion T4 weiter – "dezentral" in Anstalten, Kliniken und Heimen. Deutsche Heilanstalten ließen nun nach und nach Patienten in andere Anstalten transportieren. Der Vermerk in eine Patientenakte "verlegt in eine andere .Anstalt" oder "verlegt in eine unbekannte Anstalt" bedeutete, dass er/sie dort - oder in einer anderen Klinik - ums Lebens gebracht wurden sollte.
Beispiel ist die Anstalt (Meseritz-) Obrawalde (damals deutsch, heute: polnisch: Międzyrzecz-Obrzyce. Sie nahm Patienten der "Wittenauer Anstalten" in Berlin auf, nur wenige überlebten. Erhard Bloesser, Arzt in Wittenau, sagte später aus: "Die Zusammenstellung der Transporte erfolgte auf Anweisung der Direktion über das Oberpflegepersonal und wurde den Oberpflegern in morgendlichen Rapporten bekanntgegeben. Die Oberpfleger suchten die geeigneten Patienten heraus und legten die Listen zur Billigung dem Stationsarzt vor. Das Oberpflegepersonal wußte am besten über die Einsatzfähigkeit und Arbeitstätigkeit der Kranken Bescheid."
Die Transporte wurden von Pflegepersonal aus Wittenau/Berlin begleitet. ...Es ... wurden ... mehr als 2.000 Patienten nach Obrawalde gebracht, davon sind 1.321 nachweislich umgekommen, die meisten ermordet mit Medikamenten wie Veronal, Luminal, Evipan oder Scopolamin/Morphium. Der Tod wurde der Verwaltung der Wittenauer Heilstätten mitgeteilt. Die große Zahl von Todesmeldungen wurde als selbstverständlich hingenommen. Das Schicksal von über 700 Wittenauer Patienten ist ungeklärt.

Überblick über Anstalten und Todeszahlen (nicht vollständig)

(Quelle : http://www.deathcamps.org/euthanasia/t4poland_d.html)

 Ort | Zeitraum | Zahl der Opfer

Chelm (Woiw. Lublin)  12.1.1940 440
Choroszcz (bei Bialystok) 1941 464
Gniezno/Gnesen 12/1939, 1/1940, 6/1941 1201
Gostynin (bei Warschau) 2– 7/1940 107
Kobierzyn (bei Krakow/Krakau) 23.7.1942 500
Kocborowo/Konradstein 29.11. - 20.12.1939 2342
Kochanowka/Lodz  3/1940, 6 – 8/1940 629
Koscian/Kosten 1-2/1940 3334
Lubliniec/Czestochowa) 1942 – 11/1944 221 Kinder
Otwock (bei Warszawa) 8/1942 unbekannt
Owinska (bei Poznan/(Posen) 15.9. - 20. 12.1939 1100
Schwetz/Weichsel (bei Bydgoszcz) 9 – 10.1939 1350
Warta (bei Sieradz)  2. - 4. 4.1940  499


Strafverfolgung
Die meisten »Euthanasie«-Prozesse fanden in den ersten Jahren nach Kriegsende statt. Von 1945 bis 1947 sprachen einige Gerichte Todesurteile wegen Mordes aus. Die Pfleger Karl Willig und Heinrich Ruoff sowie der Verwaltungsleiter Alfons Klein aus Hadamar, die Pflegerin Helene Wieczorek und die Ärztin Hilde Wernicke aus Meseritz-Obrawalde sowie der medizinische Leiter der T4 Paul Hermann Nitsche und Karl Erhard Gäbler, Pfleger in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, wurden hingerichtet. Karl Brandt und Viktor Brack, Hauptverantwortliche der „Euthanasie«-Morde“, verurteilten die US-Richter im Nürnberger Ärzteprozess 1947 ebenfalls zum Tode.
Nach 1949 wurden Verfahren seltener, Urteile deutlich „milder“. Die Gerichte gingen nur noch von Beihilfe zum Totschlag aus. Sie gestanden den Tätern zu, unwissend über die Rechtswidrigkeit ihrer Taten gewesen zu sein. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« sahen die Richter nicht als grundsätzlich »unmoralisch« an – daher kam es auch gegen Haupttäter wie Werner Catel 1949 nicht zu einer Verhandlung. Weitere Verfahren in den 1960er Jahren – maßgeblich angetrieben durch den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer – führten meist zu keiner Verurteilung.

Entschädigung
Nach Regierungs-Auffassung haben Euthanasie-Opfer und deren Angehörige grds. keine Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz; Zahlungen waren möglich nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen (AKG-Härterichtlinien) vom 28. März 2011 - ausländische Opfer waren und sind aber ausgeschlossen.

Literatur/Medien
Gerlant, Uta: „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“. Die „Euthanasie“-Verbrechen der Nationalsozialisten = https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Publikationen/Studien/121109_Euthanasie.pdf
Klee, Ernst: "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt/M.
1983, bes. S. 76ff., 95ff., 191ff., 401 ff.
Loose, Ingo: Aktion T4. Die „Euthanasieverbrechen im Nationalsozialismus 1933-1945 = https://www.gedenkorte-t4-eu/de/wissen/aktion-t4
Rieß, Volker: Die Anfänge der Vernichtung "lebensunwerten Lebens" in den Reichsgauen Danzig-Westpreußen und Warthegau 1939/40, Frankfurt/Main 1995

Gedenken, Beispiele: https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/1509/Erinnerung-an-ermordete-Patienten-der-psychiatrischen-Anstalt-Konradstein